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Juan Moreno „Mein Freund der Stier

Nominiert für den Deutschen Reporterpreis 2010.

Mein Freund, der Stier

Ende Mai rammt ein 530 Kilo schwerer Stier sein Horn in den Kiefer des Toreros Julio Aparicio. Im Mund tritt es wieder aus. Wenige Wochen später gibt Aparicio sein Comeback. Gegner des Spektakels protestieren - Torero und Manager machen das Geschäft ihres Lebens.


Von Juan Moreno, Spiegel, 09.08.2010


Am Morgen hat Julio Aparicio in seinem Hotelzimmer vor einem tragbaren Heiligenschrein gekniet, den er immer mitnimmt, wenn er irgendwo auf der Welt kämpft. Er hat an diesem Morgen länger davor gekniet als sonst, sagt er.

Julio Aparicio ist seit über 20 Jahren Torero. Er hat schon Hunderte Stiere getötet, es ist nicht so, dass er diese Situation nicht kennt, die Aufregung kurz vor der Corrida. Aber es ist dieses Mal nicht die Anspannung, die er früher so oft erlebt hat. Im Gang stehen und warten, dass es beginnt. Die jubelnde Masse, die Rufe, die Musik. Es riecht nach Pferd, nach Heu, nach Stier, alles durchmischt sich, die Sommerhitze, der Lärm, der Geruch des Anzugs. Eigentlich ist es ja heute nicht anders. Gleich wird jemand das rote Holztor aufschieben, und Aparicio wird den gelblichen Sand der Arena sehen können. Die Kapelle wird aufspielen, der Applaus stärker werden. Früher war es der Moment, in dem die Spannung von ihm abfiel. Früher heißt, bis Mai dieses Jahres. Aber das, was er gerade fühlt, macht nicht den Anschein, als ob sie je wieder abfallen würde.

Der Torero hat Angst.

Es ist Anfang August, kurz vor sieben am Nachmittag, Aparicios Gesicht wirkt starr, die Haare hat er mit Pomade nach hinten gekämmt. Später wird er erzählen, dass diese Stunden die "schlimmsten seit meiner Geburt" sind.

Gerade aber tun alle um ihn herum so, als wäre das ein ganz normaler Arbeitstag. Sie tun so, als wäre es nicht das Comeback eines Toreros, der eigentlich tot sein müsste.

Aparicios neuer Manager, ein junger Kerl im Sommeranzug, schaut abwechselnd auf sein iPhone und seine Rolex. Auch er ist nervös, obwohl es nur Pontevedra ist. Eine nicht sehr große Küstenstadt in Galicien, im Nordwesten Spaniens. Eine zweitklassige Arena, aber für Aparicio gibt es erstklassiges Geld, genauer gesagt für sein Comeback. Über 10 000 Euro, heißt es.

Pontevedra ist ideal, weit weg von Madrid. In der Hauptstadt wird Vollendung in den Bewegungen erwartet. Wenn man das nicht kann, muss man den Stier so nah an sich ranlassen, dass man jederzeit durchbohrt werden könnte. Wenigstens das. Entweder man tanzt Paso doble, oder man provoziert sein Glück, so läuft das in Madrid.

Pontevedra hingegen, das sind dankbare Provinzrabauken, freundliche Aficionados, die nicht Kunst, sondern Blut sehen wollen. Sie johlen, wenn der Torero dem Stier beim Vorbeirauschen auf den Hintern haut. Das hat mit Stierkampf zwar nichts zu tun, sie finden aber, dass es irgendwie gut aussieht.

Die Männer an Aparicios Seite, seine Helfer, dehnen seit Minuten ihre Beinmuskeln. Aparicio schaut sie an, er kennt sie alle seit Jahren. Rafael, Angel und David werden nachher dem Stier bunte Zierstäbe mit Widerhaken in die Schulter stechen. Wichtiger ist aber heute der dicke Francisco. Er trägt einen hellen, cremefarbenen Anzug, der aussieht, als wäre er ihm im Lauf der Jahre zu klein geworden. Francisco dehnt sich nicht. Er ist Picador. Er wird später auf einem Pferd sitzen und dem Stier eine Lanze in den Nacken bohren, die entscheidende Schwächung. Ohne den Reiter hätte der Matador keine Chance. Francisco muss das heute gut machen. Er darf es nicht übertreiben, das mögen die Leute nicht. Der Stier wäre zu geschwächt für einen guten Kampf. Julio Aparicio aber sieht heute nicht so aus, als könne er einen Stierkampf ohne einen starken Picador überleben.

Der Krach wird lauter. Er weht von den Tribünen bis hier nach unten vor das rote Holztor. Musik erklingt.

In der ersten Reihe der Arena, auf einem der besten Plätze der Plaza, sitzt ein älterer Herr, den sie hier alle Don Eduardo nennen. Eduardo Lozano Martín ist der Empresario, der Veranstalter. Ihm gehört die Plaza de Toros in Pontevedra. Er hat die Verträge mit den Toreros gemacht, er wird den Gewinn der Corrida einstreichen. Früher hat er 15 Jahre lang Madrid gemanagt, er war der wichtigste Empresario der Welt. Mittlerweile ist er 75 Jahre alt. Niemand weiß besser, wie man mit Stierkampf Geld verdient. Heute trägt Don Eduardo schon den ganzen Tag das Lächeln eines Mannes im Gesicht, der gerade erlebt, wie sein Plan aufgeht.

Es könnte keinen besseren Zeitpunkt geben. Mitte der Woche hat das katalanische Parlament den Stierkampf für alle vier katalanischen Provinzen verboten. Wieder einmal hatte es erhitzte Debat-ten gegeben zwischen Tierschützern und solchen, die Stierkampf für ein schützenswertes Kulturerbe Spaniens halten. Künstler und Intellektuelle hatten für den Erhalt der Corrida gekämpft. Der Philosoph Fernando Savater schrieb: "Es ist kein Missbrauch, von der Henne Eier zu bekommen, vom Schwein Schinken, vom Pferd Geschwindigkeit und vom Stier Tapferkeit." Es nutzte nichts, das Verbot war keine gute Nachricht für Don Eduardo.

Sein Plan entstand vermutlich irgendwann Ende Mai. Kurz nachdem ein Bild um die Welt ging, das man schwer ansehen kann. Vermutlich ist es das berühmteste Stierkampfbild aller Zeiten, die Ursache dafür, dass Julio Aparicio heute in Pontevedra steht und Angst hat.

Das Foto entsteht am 21. Mai 2010. Es ist ein angenehmer Frühlingstag in Madrid. In Las Ventas, der Stierkampfarena der Stadt, sind gerade die Feiern zu Ehren des Heiligen San Isidro. Jeden Tag Corrida, drei Wochen lang. In der Stadt aber reden die meisten nur über Fußball. Morgen spielen die Bayern gegen Inter Mailand im Bernabéu das Champions-League-Finale. Viele hier sind froh, dass Barcelona gegen die Italiener rausgeflogen ist und die Katalanen nicht in Madrid den Cup holen werden. Fußball ist wichtiger als Stierkampf in Spanien. Stierkampf wird nicht als Sport gesehen, eher als kulturelles Spektakel, ein Fest des alten Spanien, das vor allem die Konservativen mögen. Den meisten Platz räumt "ABC", die Zeitung der Rechten in Spanien, den Corridas ein. Sie rezensiert die Kämpfe im Feuilleton, gleich neben den Theaterkritiken.

Julio Aparicio hat für Las Ventas einen schwarzgoldenen Anzug angezogen. Wenn es heute gut läuft, wird es "Verträge regnen", wie man sagt. Die Empresarios aus ganz Spanien sitzen im Publikum und überlegen, wen sie für ihre Plazas buchen.

2010 war bisher kein gutes Jahr für Aparicio. Im März wurde er dreimal gebucht, im April einmal. Jeweils zwei Stiere, gut waren vielleicht zwei seiner acht Kämpfe. Zuletzt wurde er in NÎmes ausgepfiffen. Franzosen, die einen spanischen Torero ausbuhen. Schlimmer kann es nicht kommen, dachte er damals. Heute in Madrid muss er etwas zeigen, hier entscheidet sich die Saison.

Die Nerven waren nie sein Problem gewesen. Aparicio ist 41 Jahre alt, kein junger Torero mehr. Er gab sein Debüt mit 18 in einer kleinen Arena in Gandía, nicht weit von Valencia. Schon sein Vater war Stierkämpfer gewesen. Der große Julio Aparicio, ein Idol in den fünfziger Jahren, siebenmal wurde er in Madrid auf Händen aus der Arena getragen. Natürlich heiratete er damals eine Flamenco-Tänzerin. Die Presse liebte diesen Mann.

1969 kam Julio zur Welt. Julito, wie sie ihn nannten, war nie so gut wie sein Vater. Nie besonders glanzvoll, nie der Draufgänger, der die Nähe zum Stier suchte. Nie einer, der den Stier zum Tanzen brachte. Julito wird ein solider Kämpfer. Wenn sich der Stier berechenbar bewegt, kann er annehmbare Auftritte hinlegen. Aber diese Tage sind selten. Leute, die es gut meinen, nennen Aparicio einen Künstlertorero. Weil er so schwankend ist und sehr verloren in die Arena schauen kann. Nein, sein Problem waren nicht die Nerven, es war sein Talent. Wenn der 21. Mai anders gelaufen wäre, hätte man gesagt, ein Matador, dessen Besonderheit sein berühmter Vater ist. Vielleicht wäre das bis zum Ende so geblieben.

Der Stier, der ihm in Madrid zugelost wird, heißt Opíparo. 530 Kilogramm, helles Fell, vom Züchter Juan Pedro Domecq. Alles läuft anfangs gut. Keiner der beiden begeistert, nicht Aparicio, nicht Opíparo. Der Torero riskiert nicht viel, hat den Stier aber im Griff. Aparicio macht mit seinem Tuch ein paar Derechazos, den klassischen Schwenk mit der rechten Hand. Opíparo nimmt sie an. Aparicio wechselt die Hand und hält ihm das Tuch mit der Linken hin, in der rechten hat er den Degen. Der Stier nimmt an. Opíparo reagiert. Bei einer der Bewegungen, die Hörner sind gerade am Tuch vorbei, macht Aparicio einen Schritt zurück und stolpert über das hintere Bein von Opíparo. Er hat nicht gesehen, dass der Stier seinen Körper gedreht hat.

Der Torero fällt zu Boden und begeht in diesem Moment einen entscheidenden Fehler. Er versucht aufzustehen. Toreros wird von klein auf immer wieder gesagt, dass sie liegen bleiben sollen. Wer aufsteht, ist sehr wahrscheinlich tot, wer sich nicht bewegt, hat gute Chancen zu überleben. Stiere jagen einem nicht die Hörner in den Rücken. Jedenfalls meistens nicht. Die Chance des Toreros, der liegen bleibt, ist, dass die Helfer angerannt kommen und das Tier weglocken. Gute Toreros kämpfen in der Mitte der Plaza, weil da der Weg zu ihrer Rettung am längsten ist.

Julio Aparicio glaubt vielleicht in diesem Moment, dass er noch etwas Zeit hat, um aufzustehen. So richtig wird er sich an diese Situation nie erinnern können. Er sitzt auf dem Boden, er versucht nach hinten auszuweichen, noch mal, noch ein bisschen, seinen Kopf hat er etwa auf Kniehöhe, leicht nach vorn gebeugt. Opíparo, der seit rund einer Viertelstunde gequält wurde, dreht sich um und rennt auf Aparicio zu. Er senkt den Kopf, schnauft, nähert sich rasend schnell und rammt Aparicio das rechte Horn direkt unters Kinn. Es tritt im Mund wieder aus. Das Foto sieht aus wie eine Karikatur des Stierkampfs.

Das Wunder, wie es später genannt wird, besteht darin, dass Opíparo nicht seiner Natur folgt. Er schüttelt nicht den Kopf hin und her. Vermutlich hätte er so Aparicio den Kopf in Stücke gerissen. Aber der Stier macht nur ein paar Schritte nach vorn. Er zieht Aparicio wie ein Stück Vieh am Haken mit sich. Dann lässt er von ihm ab. In diesem Augenblick kommen Aparicios Leute und lenken Opíparo ab. Es geht so schnell, dass es für die meisten in der Arena nicht zu sehen ist. Sekunden nur. Dennoch fallen zwei Zuschauer, die besonders gute Plätze haben, beim Anblick der Szene in Ohnmacht.

Wenige Minuten später liegt Julio Aparicio in der Krankenstation der Stierkampfarena.

"Es musste schnell gehen. Sie hatten ihm ein Tuch auf den Hals gelegt, als ich es runternahm, spritzte mir das Blut entgegen." Doctor Máximo García Padrós ist der Chefchirurg der Arena, ein ruhiger, älterer Herr, dessen Vater schon denselben Posten hatte. Er ist 62, und seit 34 Jahren arbeitet er in Las Ventas. Er hat sich zur Regel gemacht, immer mit eigenen Augen zu sehen, wie der Stier den Torero verletzt. Es ist dann leichter zu entscheiden, was zu tun ist. Darum sitzt der Doktor immer in der ersten Reihe.

Aparicio verliert rasend schnell viel Blut. García Padrós muss die Blutung stillen. Die gesamte Mundpartie ist zerfetzt. Das Horn ist auf der linken Gesichtsunterseite eingedrungen, hat den Unterkiefer durchschlagen, die Zunge gespalten. Teile des Oberkiefers sind zerstört. Fünf Zähne sitzen locker auf dem Kiefer und ragen waagrecht aus dem Mund.

Eine Stunde operiert der Arzt in der Krankenstation. Er macht einen Luftröhrenschnitt und versucht, Aparicio möglichst schnell transportfähig zu bekommen. Vier Ärzte und zwei Anästhesisten sind im Raum.

In Aparicios Mund liegt ein Hornsplitter. Doctor García Padrós legt ihn auf eine Mullbinde und beschließt, das Teil als Glücksbringer zu behalten. Er ist etwas abergläubisch. Wenn das Horn nicht durch den Mund wieder ausgetreten wäre, sondern vielleicht eine Arterie oder das Gehirn getroffen hätte, wäre sein Patient jetzt tot. Aber er hat nicht viel Zeit, um über das Glück dieses Mannes nachzudenken. Draußen geht die Corrida weiter. Einer seiner Ärzte sagt, dass ein zweiter Torero gerade erfasst wurde. Es war der Torero, der Opíparo getötet hat. Der zweite Stier hat dann ihn erwischt.

"Es gibt so Tage", sagt Doctor García Padrós.

Als der Krankenwagen die Stierkampfarena verlässt, hat die Online-Redaktion von "el País" das Foto bereits ins Netz gestellt. Das Bild hat der Fotograf Cristóbal Manuel geschickt. Es ist das Foto seines Lebens. Er hatte einfach auf den Auslöser gedrückt, als Aparicio auf den Boden gefallen war. Die Kamera schoss Dutzende Fotos. Er schaute sie sich wenig später auf dem Display an. Bei einem konnte er nicht glauben, was er da sah. Am nächsten Tag war es das Aufmacherbild in Tageszeitungen auf der ganzen Welt. Julio Aparicio war jetzt der berühmteste Torero Spaniens. Viel berühmter, als sein Vater es jemals war.

Er wurde an diesem Tag sechs Stunden operiert. Von einer Komplikation ein paar Tage später erholte er sich erstaunlich schnell. Die Ärzte erteilten ihm Sprechverbot für eine Weile, sagten aber auch, dass er wieder gesund werde. Es werde eine kleine Narbe zurückbleiben, nichts Großes. Jedes Gespräch endete mit dem Satz, dass er unfassbar viel Glück gehabt hat.

"Ich habe mich natürlich sehr darüber gefreut, als ich von der Genesung erfuhr." Don Eduardo, der Empresario von Pontevedra, hat sich den weißen Hut abgenommen. Man sieht ihm seine 75 Jahre nicht an. Er hört das oft. "Du musst dich eben bewegen, sonst kriegt dich der Stier", sagt er. Don Eduardo kennt Julito, seit der ein Kind war. Sein Bruder und der Vater von Julio Aparicio standen in den fünfziger Jahren gemeinsam in der Arena. "Ich rief Aparicio an und fragte ihn, ob er Pontevedra machen wolle. Fünf Minuten später hatte ich die Zusage. Wir sind alte Freunde." Don Eduardo erkannte sofort das Potential dieser Geschichte. Er ist lang genug im Geschäft, er weiß, wie man mit Stieren Geld verdient.

Nachdem Aparicio wieder sprechen konnte, gab er viele Interviews. Aus dem Unfall wurde das große Epos, das der Stierkampf in Spanien so dringend braucht. Es führte den Stierkampf auf seine einfachsten, archaischen Prinzipien zurück. Das Tier, das überleben will, erntet Respekt, der Torero, der es besiegt, Verehrung. Das Verhältnis zwischen beiden hat eine große Kraft, es hat Picasso und Goya zu Bildern inspiriert, und wenn es einmal aus der Ordnung kommt, bleibt der Respekt vor dem Tier. Verletzung oder Tod des Toreros sind Bestandteile der Regeln, nicht mehr.

Aparicio merkte schnell, dass er die große Geschichte liefern konnte. Mut gegen Wut, dazu die triumphale Wiederkehr zehn Wochen nachdem ihm ein Horn durchs Gesicht gerammt wurde. Alles musste jetzt schnell gehen.

Aparicio warf seinen Manager raus. Der hatte in einem Interview gesagt, dass man sich nicht so schnell von einem solchen Unfall erholen könne. Jedenfalls nicht mental. Der neue Manager sagt: Doch, das geht. In den vergangenen Wochen bestand sein Job darin, Interviews abzusprechen und Verträge zu unterschreiben. Aparicio wird im August in Vitoria, Marbella, El Escorial, Gijón, Torremolinos, Málaga, Antequera, Ciudad Real, Requena und Palencia kämpfen. Bis Mai wurde er sechsmal gebucht. Allein im August werden es elf Auftritte sein. In den letzten Wochen gab es mehrere Homestorys, Aparicio beim Sport, in seiner Finca, Aparicio, der Mensch.

Er fand die richtigen Worte. Er sagte: "Stell dir vor, ein Auto überfährt dich. Das ist dasselbe. Nur, dass das Auto dich in Ruhe lässt, nachdem es dich überfahren hat."

Hat er ein anderes Verhältnis zu den Stieren seit dem Unfall?

"Der Stier und ich, wir sind eine Gemeinschaft. Der Stier gibt dir den Triumph, er ist dein Freund. Er kann dich auch erwischen, er ist ein Tier, er will sich verteidigen. Aber ich sehe ihn als Freund."

Es lief. Don Eduardos Plan schien aufzugehen.

Nur eine Frage schienen alle bei all dem Trubel zu vergessen: Was passiert, wenn Julio Aparicio zum ersten Mal nach Madrid auf einen Stier trifft?

Es ist heiß in Pontevedra. Die Sonne hat den ganzen Tag geschienen. Sein erster Stier heißt Cortesano, 510 Kilogramm schwer. Aparicio nimmt das große Tuch, macht ein paar Schwenks, alle möglichst weit weg vom Körper. Dann ruft er Francisco, den dicken Picador. Francisco steht bereit. Seinem Pferd hat er die Augen verbunden. Er klemmt sich die Lanze unter den Arm und wartet auf Cortesano. Es ist kein besonders wildes Tier. Dennoch richtet Francisco es so zu, dass die Arena pfeift. Immer wieder rammt Francisco die Lanze in die Schulter und den Nacken, so lange, bis sich Cortesano wegdreht und kaum noch Kraft hat.

Aparicio, der das jetzt offensichtlich schnell hinter sich bringen will, atmet fast heftiger als der Stier. Es folgen ein paar einfache Schwenks, die dankbare Kapelle beginnt, einen Paso doble zu spielen. Das ist kein Triumph, was man in dieser Arena sieht. Man sieht einen Mann, der hier raus will. Aber es ist noch nicht zu Ende.

Sein zweiter Stier heißt Bombardero. Aparicio geht auch diesmal kein Risiko ein, ein paar Schwenks und dann schnell zum Picador.

Er hat es jetzt fast überstanden. Aparicio hat den Degen in der Hand. Er muss nur noch diese Klinge in das völlig erschöpfte Tier stoßen, und es ist vorbei. Der Matador nimmt die Position ein, nimmt Anlauf, trifft den Nacken, viel zu flach - und fällt auf den Boden. Aparicio liegt, wieder, auf dem Boden einer Arena.

Sein Blick ist irre, Panik scheint ihn für einen kurzen Moment zu ergreifen. Wieder versucht er aufzustehen, wieder macht er denselben Fehler. Bombardero wedelt mit dem Kopf. Er kann einfach nicht mehr. Er bewegt sich zur Seite, bleibt stehen. Und Aparicio steht auf.

Er hat es geschafft. Er lebt. Die freundlichen Menschen in Pontevedra klatschen. Es ist nicht der Applaus eines Publikums, das einem Triumphator huldigt. Es klingt eher wie Freude. Die Freude darüber, dass dieser Tag für Julio Aparicio vorbei ist.

"Es gibt hier durchaus einige im Publikum, die nur gekommen sind, weil sie sehen wollten, ob es Aparicio vielleicht noch mal erwischt", sagt Don Eduardo. Ein guter Sitzplatz für dieses Schauspiel hat 110 Euro gekostet. Don Eduardo sagt, es sei wie bei der Formel 1. Er selbst schaue die Rennen auch nur wegen der Unfälle an. Der Rest sei langweilig.

Für Julio Aparicio ist die gute Nachricht des Tages, dass er noch am Leben ist.

Die schlechte Nachricht ist, dass andere noch große Pläne mit ihm haben.

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Juan Moreno


Juan Moreno wurde am 6. Oktober 1972 in Huércal-Overa (Spanien) geboren. Er hat VWL in Konstanz, Florenz und Köln studiert. Nach dem Studium besuchte er die Deutsche Journalistenschule in München. Anschließend schrieb Moreno für die Süddeutsche Zeitung. Seit mehreren Jahren moderiert er eine Radiosendung beim Westdeutschen Rundfunk und eine politische Diskussionssendung bei Phoenix. Er schreibt regelmäßig für das Nachrichtenmagazin "Der Spiegel". Sein Roman "Cindy liebt mich nicht" wurde 2010 verfilmt.
Dokumente
Mein Freund der Stier

erschienen in:
Der Spiegel,
am 09.08.2010

 

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